Gleich nach der Auslosung gegen Beşiktaş Istanbul wurden von deutschen wie auch von türkischen Medien alte Fotos ausgegraben: die Südkurve mit einem Meer von orangefarbenen Plastiktüten – der sogenannte Aldi-Tüten-Skandal. Die Initiatoren der damaligen Aktion bedauern, dass die Aktion nach 20 Jahren immer noch dazu verwendet wird, um die Stimmung zwischen beiden Fanlagern unnötig anzuheizen. Anlässlich eines europäischen Fankongresses in Istanbul gab es vor fünf Jahren erste Gespräche, bei denen Fans beider Vereine die Meinung vertraten, dass es längst überfällig wäre, diese Vorfälle zu den Akten zu legen.
Mit den beiden anstehenden Spielen soll deshalb ein Neustart in den Beziehungen beider Fangemeinden begangen werden. Vorab möchten wir in einem Interview mit zwei Vertretern (Mehmet und Ayhan) der Fanszene von Beşiktaş einige aktuelle Themen aufarbeiten und ggf. das eine oder andere Missverständnis ausräumen.
- Club Nr. 12
- Fangen wir gleich mit dem unangenehmen Teil an: Wie habt ihr die Aldi-Tüten-Aktion 1997 wahrgenommen?
- Mehmet
- Die Aldi-Tüten-Aktion wurde in den Medien als eine rechtsgerichtete politische Aktion wahrgenommen und stand tagelang auf allen türkischen Titelblättern. Tatsächlich hätten es die Fans in der Türkei ohne die Berichterstattung nicht als solche verstanden, da es Aldi-Filialen erst seit 2000 in der Türkei gibt und somit zu diesem Zeitpunkt niemand die Supermarktkette kannte. Erst nachdem es in den Zeitungen ausführlicher thematisiert wurde, haben wir verstanden, dass es auf jeden Fall eine herablassende und diskriminierende Aktion gegenüber den in Deutschland lebenden Türken war. Darüber hinaus hat man sie als Menschen zweiter Klasse gekennzeichnet.
- Ayhan
- Wenn diese Frage 1997 gestellt worden wäre, dann hätten wir ganz anders geantwortet. Die Zeiten und die Standpunkte haben sich in vielerlei Hinsicht gravierend geändert, für uns als auch für euch.
Die in Deutschland lebenden Türken und arme Menschen hat diese Aktion traurig gemacht. Armut ist nichts, wofür man sich schämen sollte. Aldi ist oder war symbolisch der Einkaufsort vieler Deutschen, Türken sowie Bürger anderer Nationalitäten, die über geringfügige Mittel verfügen. In ihrer Armut sind jedoch alle Menschen gleich.
Dass die Aktion unmittelbar nach der Auslosung des Achtelfinales nochmals thematisiert worden ist, betrachten wir als unnötig, da die Beşiktaş-Fans nicht nachtragend sind. Ganz im Gegenteil, unsere Toleranz haben wir bis heute bewahrt.
- Club Nr. 12
- Tatsächlich war die "Tüten-Choreo" eine recht spontane Aktion von einer Handvoll Jugendlichen, die danach ziemlich erschrocken darüber waren, was sie damit für einen Skandal ausgelöst hatten. Die Jungs waren einfach am Nachmittag vor dem Spiel in eine Aldi-Filiale gefahren und haben dort für 50 DM einen großen Karton Tüten gekauft...
- Ayhan
- So traurig es für uns war, so unglücklich lief es dann letztendlich auch für euch. Fußball ist so ein magisches Spiel und genießt so eine hohe mediale Aufmerksamkeit, dass die Gedanken einiger weniger schelmischer Personen viel Positives wie Negatives auslösen können.
- Club Nr. 12
- Um die Intention der Jungs besser einschätzen zu können, muss man sich die damaligen Entwicklungen in der Fanlandschaft vergegenwärtigen: Es war die Zeit, als die italienische Ultra-Kultur gerade nach Süddeutschland rüberschwappte. Genau in dieser Saison wurden das erste Mal regelmäßig optische Stilmittel in der Südkurve verwendet, wie z.B. Spruchbänder und Choreografien. Und dazu wurden natürlich auch Ideen gesucht, um sich gegenseitig – in Bayern würde man sagen – naufzuschiaßn – also sich über den gegnerischen Verein lustig zu machen. Und da erschien eine Aktion mit der man für so einen geringen Geldbetrag so einen großen optischen Effekt erzielen kann, zunächst mal sehr verlockend. Wenn wir auf eurer Seite gestanden wären, hätten wir wahrscheinlich 500 Kartoffelsäcke hochgehalten...
- Mehmet
- Meiner Meinung nach haben diskriminierende oder herablassende Aktionen gegen Migranten oder arme Menschen in der Fan- und Ultra-Kultur nichts verloren.
Auf der ganzen Welt gibt es wertvolle Ideen für Choreographien in den Stadien. Beispielsweise haben Beşiktaş-Fans, wenn keine Materialien vorhanden waren, mit ihren Armen, Händen und insgesamt nur mit Körperbewegungen unglaubliche Choreographien organisiert. Die Aldi-Tüten-Choreo war eine Aktion, die keinen großen Aufwand erfordert hat. Aber generell macht der Aufwand eine besondere Choreo aus.
Nach unserer Auffassung hat Bayern München nie die gesamte deutsche Gesellschaft repräsentiert, natürlich auch nicht alle Münchner und auch nicht diejenigen, welche die Aldi-Aktion durchgeführt haben. Somit ist es für uns nicht richtig, alle Deutschen und die FC Bayern-Fans dafür verantwortlich zu machen. Die türkischen Fans denken bei Deutschland sicher nicht an Kartoffeln, sondern eher an die Ereignisse in Solingen, Mölln, oder auch an die NSU-Fälle. Allerdings kann man diese Fälle auch hier nicht auf alle deutschen Bürger projizieren. - Ayhan
- Die 90er Jahre waren dunkle und harte Zeiten für uns. Viele Journalisten, Politiker, Gewerkschafter und Bürger wurden ermordet. Wir haben den Hooliganismus auf Wunsch unserer Gegner von Galatasaray und Fenerbahçe in gegenseitigem Einverständnis zu den Akten gelegt. Diese Zeit haben wir als "Frieden" bezeichnet. Die Ereignisse in unserem Land haben das erfordert. Als in Europa die Ultraszene entstanden ist, ging ungefähr die Zeit der Istanbuler Hooligan-Szene zu Ende. Der Frieden herrscht immer noch und nach der Hooligan-Zeit haben wir mit den Gesängen wie "Wir gehen, um zu sterben" aufgehört. Wir haben angefangen, das "Leben und das Leben lassen" zu verteidigen. Die grundlegende Veränderung war, dass wir das Leben nicht mehr dem Fußball geopfert oder gewidmet haben. Wir haben vielmehr den Fußballsport dem Leben "geopfert" und hinzugefügt.
In dieser Zeit hätten wir wohl keine 500 Säcke in die Luft gehoben, sondern direkt den Kampf auf der Straße gesucht. Heute würden wir mit unserem Humor und mit Witz antworten und denken, dass dies der viel erfolgreichere Weg ist. Heute hätten wir das Ganze witzig verpackt und gesagt, dass "ihr im Wesentlichen ein wenig verwirrte, aber im Herzen gute Kinder seid".
- Club Nr. 12
- Es gab zu der Zeit in Deutschland das Klischee: Türke = Aldi-Tüte. Auch vor 20 Jahren haben wohl schon mehr Deutsche als Türken bei Aldi eingekauft – aber im Straßenbild in München kam einem das nicht so vor. Während die türkeistämmige Hausfrau selbstbewusst ihren Wocheneinkauf in drei Aldi-Tüten nach Hause geschleppt hat, war das wohl einigen Deutschen eher peinlich und man hat dann lieber eine gebrauchte Tengelmann-Tüte zum Aldi mitgenommen... Dass man die Tütenaktion in Richtung "wir Deutschen oben – ihr unten beim Aldi" interpretiert, war von den Jungs damals nicht beabsichtigt. Aber sie hätten erkennen müssen, dass man das so auffassen kann. Und als sie es verstanden haben, war es schon zu spät...
- Mehmet
- In der Türkei ist das Einkaufsverhalten hinsichtlich der gesellschaftlichen Schichten immer noch nicht wie in Deutschland bzw. geht hier die soziale Schere bei den Lebensmitteleinkäufen nicht so weit auseinander.
Allerdings kann man beim besten Willen nicht behaupten, dass die Aktion witzig oder belustigend ist. Es geht einfach nicht, sich über Menschen mit geringerem Einkommen lustig zu machen. Hier hat man die in Deutschland lebenden Türken im Vergleich zu deutschen Einwohnern "klassifiziert" und als arme Sozialschicht bezeichnet.
Die Welt hat sich in vielerlei Hinsicht verändert. Heute sieht man, wie unnötig die Aktion war, die neoliberale Politik spiegelt sich auch in Deutschland klar wider. Die soziale Schere geht auch in Deutschland auseinander und so kaufen auch Menschen bei Aldi ein, die bei der Aktion damals mitgemacht haben. Die "Aldis" der Welt wurden zu den Supermärkten der weit überwiegenden Weltbevölkerung. Wie immer dienen die rechten Kräfte nicht der Gesamtbevölkerung, sondern nur der reichen Minderheit und somit der oberen Gesellschaftsschicht.
Letzten Endes hat die türkische Regierung in Zusammenarbeit mit den hiesigen Medien 1997 alles so dargestellt, als ob die gesamte deutsche Bevölkerung über die Türken so denke. - Ayhan
- Dass die Aktion auf Eurer Seite heutzutage nun so intensiv diskutiert wird, ist für uns sehr positiv. Die Analyse habt ihr generell auch sehr gut gemacht. In der Türkei gibt es ein Sprichwort hierzu, "man schießt sich bewusst ins eigene Knie" und man reflektiert die eigenen Taten im positiven Sinne.
- Club Nr. 12
- In der türkischen und deutschen Presse war es jedenfalls ein großes Thema und beim Rückspiel war die Stimmung ziemlich aufgeladen...
- Mehmet
- Wir sprechen hier von den 90ern: eine Zeit, in der ausländerfeindliche Übergriffe die deutsche und türkische Medienberichterstattung mitbestimmt haben: '92 Mölln, '93 Solingen und jedes weitere Jahr rechter Taten haben das deutsche Bild in der Türkei geprägt.
Natürlich hat die Aktion '97 die Situation nicht verbessert, sodass zum Rückspiel in Istanbul die Stimmung sehr angespannt war. Letzten Endes sind beim Rückspiel unschöne Dinge passiert, die nicht hätten passieren sollen.
Allerdings hat sich die Fanszene in Deutschland und in der Türkei zum Positiven geändert, sodass man inzwischen näher an einem gemeinsamen Nenner ist. - Ayhan
- Der Grund, weshalb die Aktion in unseren Medien so präsent war, lag auch wie vorher beschrieben daran, dass das Land eine dunkle Zeit durchstehen musste. Politiker haben tagtäglich den Fußball benutzt, um von den eigentlichen Problemen abzulenken und die Jugend zu manipulieren. Die Jugend wurde dazu gebracht, sich nur um den Fußball zu kümmern, anstatt die Tagesthemen zu verfolgen. Die Jugend sollte durch den Fußball von der Wirklichkeit ferngehalten werden. Dazu hat man den Fußball als Instrument verwenden wollen. Daher hat man die Aldi-Geschichte aufgebauscht und großgemacht, um von anderen Problemen abzulenken. Um dieses Ziel zu erreichen, hat die Regierung mit den Medien zusammengearbeitet.
- Club Nr. 12
- Wie hat sich eurer Meinung nach die Aldi-Choreo auf das Image des FC Bayern München ausgewirkt?
- Mehmet
- Für mich persönlich war die Sympathie für den FC Bayern dahin. Die Antwort der Dortmunder Fans mit den Lidl-Tüten hat Sympathiepunkte für Dortmund bedeutet. Aber das für uns bedeutendste Transparent mit der Aufschrift "Wir kaufen alle bei Aldi" haben die Kölner Fans gezeigt.
- Ayhan
- Bereits vor der Aldi-Choreo haben wir für den FC Bayern München keine großen Sympathien gehegt. Nach dieser Aktion ging sie gegen null. Das Interessante ist: Vor dem verlorenen Spiel des FCB gegen Porto (1987) haben alle Porto unterstützt. Aber Jahre später – sogar nach der Aldi-Choreo – als der FC Bayern München trotz tollen Fußballs das Finale gegen Manchester United verloren hat, waren wir sehr traurig. Ihr habt zwar den Pokal nicht gewonnen, dafür aber sehr viele Sympathien, das war auch eine positive Entwicklung.
Was ich damit sagen möchte: Fußball kann sehr viel Zerstörtes mit der Zeit auch wieder wiederherstellen.
- Club Nr. 12
- Beim Fankongress vor fünf Jahren in Istanbul haben wir eine andere Seite von Beşiktaş kennengelernt. Noch heute schwärmen viele Teilnehmer, wie gastfreundlich man dort empfangen wurde.
- Mehmet
- çArşı hat die Organisation des Fankongress damals unterstützt. Die Gastfreundschaft gilt hierbei nicht nur für Beşiktaş, sondern für die gesamte türkische Gesellschaft.
- Ayhan
- Wenn es um die Gastfreundschaft geht, ist das Viertel Beşiktaş das modernste, demokratischste, laizistischste, sowie sicherste Viertel der gesamten Türkei. Neben der Gastfreundschaft ist der gegenseitige Respekt der Menschen untereinander einzigartig.
In den letzten 20 Jahren ist der Fußball-Tourismus zu unseren Spielen aber auch explodiert. Bei jedem Spiel kommen bis zu 10 Fangruppierungen europäischer Fußballteams, um mit uns das Spiel anzusehen. Von der Atmosphäre vor dem Spiel im Viertel und im Stadion gefesselt, geben viele das Feedback, dass sie so etwas noch nicht erlebt haben und fahren mit Beşiktaş-Fanschals in ihre Länder zurück. Die Türkei ist ein tourismusstarkes Land und laut einer Statistik der Tourismusbranche gibt es bei Souvenirs folgendes Ranking: An erster Stelle Lokum (traditionelle Süßigkeit), an zweiter der osmanische Fes-Hut, an dritter Stelle ein Fanschal von Beşiktaş.
Hunderttausende nicht türkeistämmige Bürger weltweit sind Fans von Beşiktaş geworden. Das ist ein Ergebnis der Gastfreundschaft, unserer Heißblütigkeit und der Liebe, die wir gemeinsam für unsere Mannschaft zeigen.
- Club Nr. 12
- Wir hatten uns auf dem Fankongress schon mit einigen Beşiktaş-Fans unterhalten und alle waren genervt davon, dass das Verhältnis zwischen Beşiktaş und Bayern seit 20 Jahren nur mit dieser Tüten-Aktion verbunden wird.
- Mehmet
- Nach dem Fankongress in Istanbul haben wir von den Bayernfans während der Gezi-Protestzeit Unterstützung per Spruchband erhalten. Darüber hinaus habt ihr uns bei den Gezi-Verfahren unterstützt.
Dieses Aldi-Thema hätte schon längst beendet sein müssen. Mit eurer Einladung hoffen wir, das Thema endlich zu den Akten zu legen. - Ayhan
- An diesem Thema sollten wir nicht länger hängen bleiben, denn junge Leute, die zu unserem Spiel kommen, wissen nicht einmal mehr von dieser Sache. Dass ihr das nach so langer Zeit nicht vergessen habt und euch zu diesem Thema empathisch verhaltet, ist ein gutes und heilendes Gefühl. Letzten Endes haben Fußball-Legenden, an die wir uns gerne erinnern und die sich in unser Herz gespielt haben, das FC Bayern-Dress getragen. Daran erinnern wir uns mehr als an die Aldi-Choreo.
Wir wurden zur Gezi-Zeit als gesamte Kurve angeklagt. In dieser schweren Zeit haben viele europäische Fangruppen für çArşı Solidaritätsspruchbänder gezeigt. Eines davon war auch von der Südkurve München. Viele Transparente haben uns beeindruckt, aber am meisten eure Unterstützung. Ehrlich gesagt haben wir damit nicht gerechnet. An dieser Stelle möchten wir euch dafür nochmals einen großen Dank aussprechen. Diese Solidarität werden wir euch niemals vergessen!
- Club Nr. 12
- Es gibt leider noch ein anderes unerfreuliches Thema: Euer Verein wurde von der UEFA für die Vorfälle in Lyon zu einer Bewährungsstrafe verurteilt: Sobald es noch einmal zu negativen Vorfällen kommt, würde Beşiktaş aus der Champions League ausgeschlossen. Als Konsequenz daraus hat eure Vereinsführung beschlossen, kein Risiko einzugehen und fordert überhaupt keine Tickets mehr für die Auswärtsspiele an.
- Mehmet
- Wir sehen das Verhalten der Vereinsführung als Kritik an der UEFA an. Letztes Jahr hat die türkische und europäische Politik sehr viele Spannungen hinter sich gebracht. Das hat sich auch auf den Fußball ausgewirkt.
- Club Nr. 12
- Wir hatten ja vor zwei Jahren eine ähnliche Situation, als ein Bayernspiel in Moskau unter Ausschluss der Öffentlichkeit gespielt wurde. Wir hatten das Glück, dass wir uns in einem noch im Bau befindlichen Hochhaus neben dem Stadion eine Etage mieten konnten... Aber in Monaco, Leipzig oder Porto gab es wohl kein passendes Hochhaus...?
- Mehmet
- Bei allen Spielen haben einige Beşiktaş-Fans das Verbot umgangen. Die genaue Zahl kennen wir nicht, aber ungefähr 500 bis 600 pro Spiel werden es gewesen sein. Ich selbst konnte nur zum Portospiel gehen. Aufgrund privater Gründe konnte ich das Spiel gegen Leipzig trotz Ticket leider nicht besuchen. Beim 3-1 Auswärtssieg gegen Porto war ich auf der Haupttribüne und habe mich bei jedem Auswärtstor gefreut und es gab keine Probleme.
In Monaco gab es die strengsten Sicherheitsvorkehrungen: Ohne französischen Pass konnte man nicht ins Stadion gelangen. Am Ende des Spieles hat man allerdings dann doch ein paar Fans gesehen, die mit dem Team gemeinsam den Sieg gefeiert haben.
- Club Nr. 12
- Was sagt Ihr zu den Vorwürfen über die Vorfälle in Lyon?
- Mehmet
- Zu allererst finden wir die Entscheidung der UEFA in diesem Fall nicht richtig. Ja, an den in Lyon geschehenen Vorfällen waren Beşiktaş-Fans schuld, aber nicht im Auswärtsblock. Der Verein Olympique Lyon hat die Tickets für neutrale Tribünenbereiche, die sie nicht füllen konnten, an nicht erfahrene europäische Beşiktaş-Fans verkauft, aber hierzu keinerlei Sicherheits-Vorkehrungen getroffen. Generell hat unsere Vereinsführung diese einseitige Entscheidung kritisiert und sich dazu entschlossen, keine Auswärtsfans mehr mitzunehmen.
- Ayhan
- Beim Lyon-Spiel waren 3500 Fans, alle in Beşiktaş-Trikots. Außer uns waren noch 40-, 50-, 60-Jährige in Türkei-Trikots im Stadion, die mit uns nichts zu tun hatten. Nach den Provokationen dieser Leute haben sich im Stadion diese Szenen abgespielt. Zum Glück waren wir vor Ort, denn mit unserer Erfahrung haben wir noch Schlimmeres verhindert. Das Interessante ist, dass in der Türkei die Vorfälle nie zur Sprache gekommen sind und unter den Teppich gekehrt werden. Der Verein Beşiktaş musste sich dem politischen Willen beugen und diese Entscheidung treffen. Weder der Verein, noch die Fans sind schuld an diesen Vorfällen. Diejenigen die den Fußball instrumentalisieren sind bekannt.
- Club Nr. 12
- Viele in Europa haben schon von çArşı gehört. Aber vielleicht könnt ihr euch trotzdem nochmal kurz vorstellen.
- Mehmet
- Für mich ist çArşı folgendes: Man steht nicht auf der Seite des Stärkeren, sondern auf der Seite dessen, der Recht hat. Man hält gegen den Druck der Mehrheit stand und ist die verteidigende Kraft der Minderheit, deren Gerechtigkeitssinn sehr stark ausgeprägt ist. In allen Belangen ist man sehr mutig und geht gegen Ungerechtigkeit vor. çArşı besteht aus allen Religionen, aus jeder Nationalität – eine Gemeinschaft, bei der es nicht wichtig ist, woher man stammt. Das ist çArşı.
- Ayhan
- Das Schwierigste für uns ist, von uns selbst zu erzählen. çArşı ist in den Jahren nach dem Militärputsch 1980 aus den gesellschaftlichen Umständen heraus 1982 aus 10- bis 15-jährigen Jugendlichen von der Straße entstanden. In diesen Jahren verfolgte der Regierung das Ziel, dass die Jugendlichen sich nicht mit der Politik beschäftigen, sondern ihre Energie in den Fußball investieren sollten. Das bedeutete auch den Ursprung des Hooligan-Zeitalters in Istanbul. Wie in anderen großen Ländern hat sich die Regierung entschieden, zwei rivalisierende Teams in den Städten zu schaffen.
Die Tagesthemen sollten dadurch gefüllt werden, um den schlechten Zustand der Wirtschaft zu vertuschen. Unseren Gegnern wurden alle Mittel zugesprochen und Beşiktaş wurde zwischen den anderen beiden Teams bewusst demontiert. Wir haben dieses Spiel erkannt und haben uns gut organisiert. Wir haben die gegnerischen Fans daran gehindert ins Stadion zu gelangen, wir haben sie in den eigenen Stadien in die Mangel genommen.
Durch die Umstände und die Betrugsfälle im türkischen Fußball und unserer Reaktion darauf wurden wir ein Problem für die Politik. Mit unseren Kämpfen haben wir die repressive Haltung der Post-Putsch-Phase wortwörtlich in den Müll geschmissen. In den 80ern und 90ern war bei uns wohl die härteste Hooligan-Phase. In dieser Zeit haben sich die Beşiktaş-Fans unter dem Dach von çArşı zusammengefunden.
In den Jahren als wir fußballerisch nicht erfolgreich waren, hat uns der Erfolg als çArşı Beşiktaş-Fangruppe berühmt gemacht. Dass heute Beşiktaş als Verein der einfachen Leute angesehen wird, dass in Umfragen 70 Prozent der Türken sagen, ihr zweites Team sei Beşiktaş, sind die Früchte unserer Arbeit. Im Moment gibt es in der Türkei nicht drei große Teams, sondern nur eins. In unserer Gesellschaft marginalisieren sie immer diejenigen, die Unrecht erleiden. Diejenigen, die das größte Unrecht erleiden, tragen Beşiktaş im Herzen und sehen sie als Meister der Herzen. Und çArşı setzt sich als Erster für ihre Belange ein.
- Club Nr. 12
- Euer Verein oder zumindest die Fangemeinde ist ja eher kosmopolitisch eingestellt...
- Mehmet
- Ja, in letzter Zeit hat der Verein auch die Fankultur verstanden und benutzt nun alle Mittel, um gegen Diskriminierung vorzugehen und um weltweit einen guten Ruf zu erlangen. Dass wir sympathisch sind und eine offene Fankultur haben, weiß bereits jeder.
Was ich damit sagen möchte: Bei uns ist es nicht wichtig, woher und wie die Fans ins Stadion kommen, sondern dass sie mit ihrer ganzen Kraft und bis zum Stimmverlust das Team unterstützen. - Ayhan
- Dem Twitter-Account von çArşı, Forza Beşiktaş folgen bereits drei Millionen Follower. Aktuell sind wir die Fangruppe mit den meisten Followern in den sozialen Medien. Dazu gehören Journalisten, weltweit agierende Vereine, Medien, selbst internationale Größen von politscher Bedeutung wie das Weiße Haus folgen dem Account. Dass nicht alle Fußballfans sind, kann man sich denken.
çArşı ist eine politische Größe in der Türkei, die Stimme derer, die nicht gehört wird, die Hoffnung derer, die bereits ihre eigene verloren hatten. çArşı ist der Beweis, dass Fußball deutlich mehr ist als "nur" Fußball. çArşı ist die Kraft, die den türkischen Fußball mitunter bekannt gemacht hat. çArşı ist die Verkörperung aller Religionen, Sprachen, aller Menschen, die sich nicht unterscheiden und ihr Herz an Beşiktaş verloren haben. Das beste Beispiel dafür ist, dass wir in einem Land, dass Armenier diskriminiert, einen Armenier zu unserem Capo (Vorsänger) ernannt haben. Das ist eine starke Botschaft an alle. Das "armenische Problem" hat im Inönü-Stadion erstmals eine Lösung gefunden.
Hoffentlich finden unsere Nachfahren in beiden Ländern einen Weg, diesen Grundstein aufzunehmen und endlich zusammen zu finden.
- Club Nr. 12
- Als Beşiktaş-Fan ist man in den letzten Jahren ja viel Kummer außerhalb des Rasens gewohnt. Viele eurer Mitglieder haben sich vor vier Jahren an den Gezi-Protesten beteiligt. Einige wurden dafür sogar verhaftet. Wie ist hier der aktuelle Stand?
- Mehmet
- Zu diesem Thema wurden viele Sachen geschrieben und berichtet. Die Gezi-Proteste waren ein Meilenstein für Beşiktaş çArşı. Bei vielen Heimspielen vor den Gezi-Protesten kam es bereits zu Auseinandersetzungen mit den staatlichen Sicherheitskräften. Die größte Auseinandersetzung gab es zum letzten Heimspiel vor dem Abriss des Inönü-Stadions. Direkt in den Tagen danach haben wir "Gezi" erlebt. Die Beşiktaş-Fans werden damit immer weiter machen und denjenigen zur Seite stehen, die Recht haben. Aktuell befindet sich niemand im Gefängnis. Zwei Personen wurden in Verfahren zu den Gezi-Protesten zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Aber an çArşı erinnert man sich nach wie vor im Zusammenhang mit den Ereignissen bei den Gezi-Protesten.
- Ayhan
- Vor Gezi wurden Parallelgesellschaften gebildet. Es wurde alles versucht, die Gesellschaft dementsprechend zu gestalten. Nach Gezi wurden wir als Putschisten angeklagt. Wir wurden beschuldigt, eine Terrororganisation gegründet zu haben. Es wurden Polizei-Operationen auf den Tribünen durchgeführt. Über die Anschuldigungen gegen uns haben 80 Millionen Menschen auf einmal zu lachen begonnen. Keiner hätte geglaubt, dass ein Gerichtsverfahren so schlecht vorbereitet werden kann. Die Verfahren wurden weltweit verfolgt, man wollte nur alles schnell zum Abschluss bringen.
Zwei Jahre danach haben wir dann tatsächlich einen Putschversuch erlebt.
Wir wurden in allen Verfahren freigesprochen. Gezi war für uns ein Thema, bei dem es uns um die Umwelt und die Stadt gegangen ist. Hier haben wir keine politischen Ziele verfolgt und sind noch weniger Politikern gefolgt. Denn alle waren der Überzeugung, dass mit dem Gezi Park ein grüner Ort am Taksim Platz bleiben sollte, an dem Istanbul noch atmet, ein Fleck zum Spazierengehen. In diesem Punkt sind sich im Land mittlerweile alle einig geworden.
- Club Nr. 12
- Wie sehr hat die Politik der letzte eineinhalb Jahre Einfluss auf euren Verein und eure Fangemeinde?
- Mehmet
- In den deutschen Medien habt ihr sicher die Folgen der Gezi-Proteste in der Türkei verfolgt. Das repressive Regime hat die Menschen in zwei Lager gespalten. Der Druck und die diskriminierende Politik uns gegenüber halten in allen Teilen der Bevölkerung weiter an.
Dass unser Fanlager nicht sehr regierungsnah ist, weiß jeder. Allerdings: Während in der Türkei so einiges schief läuft, ist Beşiktaş mit den einmaligen und historischen Erfolgen der Grund, um aktuell glücklich zu sein. - Ayhan
- Diese Zeiten haben uns auf der Tribüne extrem eingeschränkt und unsere Möglichkeit, uns frei zu entfalten, um mehr als 50% reduziert. Wir durften keine Spruchbänder mehr zeigen und haben Zuschauerausschlüsse für die Spiele erhalten. Um den Druck auf uns zu erhöhen, wurde das "Passolig"-System (elektronische Tickets mit Datenerhebung) eingeführt. Damit kann die Regierung jeden überwachen, wann immer sie will. Das ist momentan der Hauptgrund für den schlechten Zustand des türkischen Fußballs. Unser aktuelles Ziel ist es, eine Rücknahme des Passolig-Systems zu erwirken, um den Fußballsport und den Stadionbesuch wieder freier gestalten zu können.
- Club Nr. 12
- Auch bei euch wurde in den letzten Jahren ein neues Stadion gebaut. Aber zu eurem Glück am angestammten Standort, nur ein paar Schritte vom Bosporus entfernt und nicht wie jetzt bei vielen Neubauten üblich irgendwo am Stadtrand. Wie kommt ihr mit dem neuen Stadion zurecht, was hat sich dadurch für euch verändert?
- Mehmet
- Unser altes Stadion kann durch nichts ersetzt werden. Der größte Unterschied zu vorher ist, dass im neuen Stadion alle Tickets und Dauerkarten teurer und neu vergeben worden sind. Somit haben bestehende Fangruppen nicht ihren alten Platz wiederbekommen. Zum Anpfiff der Spiele hat sich die Atmosphäre nicht verändert, aber beim Durchhaltevermögen über die gesamten 90 Minuten sind wir nicht mehr so gut aufgestellt wir vorher. Trotzdem sind wir auf jeden Fall die lautesten Fans, das werdet ihr in Istanbul sehen, bzw. hören.
Für uns war das Wichtigste, dass das Stadion am selben Ort erbaut wird, denn hier haben wir 10 Meisterschaften gewonnen. Es war so schwer, das Stadion an derselben Stelle neu zu bauen. Nur der Hartnäckigkeit, dem Widerstand und Kampf der Beşiktaş-Fans ist es zu verdanken, dass das Stadion am selben Ort errichtet worden ist. Darüber hinaus haben wir Beşiktaş als Stadtviertelmannschaft geschützt und erhalten. - Ayhan
- Unser neues Stadion ist modern. Zu den ersten Spielen haben einige Fans sogar ihre Schuhe ausgezogen, damit das Stadion nicht schmutzig wird. Mit dem Stadion sind die Kosten gestiegen, dementsprechend sind die Tickets teurer geworden. Neue und reichere Fans finden nun Zugang zum Stadion. Wir hätten uns gewünscht, dass das alte Stadion nicht abgerissen und somit als Erbe für den Weltfußball erhalten geblieben wäre. Aber wenn es um Beşiktaş geht, spielt es keine Rolle, ob reich oder arm. Ich glaube daran, dass wir mit der Zeit zu unserer alten Ordnung zurückfinden werden.
- Club Nr. 12
- Last but not least: Der FC Bayern ist sicher Favorit für das Spiel. Was erhofft ihr euch auf dem Rasen?
- Mehmet
- Ich glaube daran, dass Beşiktaş bis zum Schlusspfiff kämpfen wird und sogar mit einem Unentschieden nach Istanbul zurückkehren könnte. Das Ergebnis ist allerdings zweitrangig für uns. Wenn unser Team bis zum Ende kämpft und verliert, dann spielt selbst eine Niederlage keine Rolle.
- Ayhan
- Klar, Bayern München ist der Favorit, aber "auf der Brennsupp´n sind wir auch nicht daher geschwommen gekommen". Ihr habt möglicherweise derzeit nicht den besten Kader eurer Geschichte, wir hingegen schon. Es könnte also tatsächlich ein überraschendes Ergebnis geben, aber nicht für uns, sondern für euch. Also solltet besser ihr gut vorbereitet sein. Wir freuen uns über Ergebnisse oder auch nicht, aber wir leben immer mit der Liebe zu Beşiktaş.
- Club Nr. 12
- Vielen Dank für die vielen Antworten. Wir freuen uns sehr auf beide Spiele!
Das Interview in türkischer Sprache findet ihr hier.
Türkçe reportajı burada bulabilirsiniz.